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Was die Schweizer den Deutschen voraus haben
Thomas Borer (56) war von 1999 bis 2002 Schweizer Botschafter in Deutschland
Bei der Volksabstimmung zur Zuwanderung habe ich mit Nein gestimmt. Ich habe angenommen, die Mehrheit der Schweizer mache das auch so, denn bisher haben die Eidgenossen in Wirtschaftsfragen immer wirtschaftsfreundlich abgestimmt.
Diesmal haben 19 526 Stimmen den Ausschlag für ein Ergebnis gegeben, das der Wirtschaft Probleme schaffen wird.
Punkt 1: Hier ist gleich der erste Punkt, an dem die Deutschen und manche Europäer etwas von den Schweizern lernen können: Wir haben eine andere Debattenkultur. Es wird oft heftig diskutiert, aber niemand wird für seine Meinung ausgegrenzt. Und wenn das Volk entschieden hat, wird diese Entscheidung nicht zerredet, sondern loyal umgesetzt, auch wenn sie der Regierung an sich nicht passt.
Punkt 2: Bei der direkten Demokratie ist die Schweiz im Vorteil gegenüber Deutschland. Das Volk entscheidet direkt und nicht indirekt durch Politiker. Das passt mitunter den gewählten Abgeordneten nicht in den Kram. Aber solche Volksabstimmungen fördern die politische Kultur und Akzeptanz.
Punkt 3: Die Schweizer sind weniger obrigkeitsgläubig. Sie misstrauen Behörden, Bürokraten und Regierenden. Außerdem hassen sie es, wenn das Ausland Druck ausübt. Da werden wir Schweizer störrisch.
Punkt 4: Die Schweizer sind in heiklen Fragen mutiger als die Deutschen. Sie tragen eben nicht die Last der deutschen Geschichte. So können sie schon mal Wahrheiten aussprechen, die in Deutschland als politisch nicht korrekt gelten.
Punkt 5: Wir sind ein stolzes Volk. Dabei geht es nicht um den Stolz auf die Nation, nicht um Nationalismus. Es geht vielmehr um den Stolz auf die Heimat, den Kanton, aus dem man stammt, auf das Tal, in dem man geboren ist. Diese Täler und Kantone sind zu dem zusammengewachsen, was wir als Schweizer Willensnation bezeichnen.
Mein Land ist unglaublich vielschichtig, kompliziert, auch in sich widersprüchlich. Es gibt die moderne und doch traditionelle, die offene und doch verschlossene, die zutiefst europäische und doch als Nicht-EU-Mitglied abseits stehende Schweiz.
Und aus diesen Widersprüchen schöpft die Schweiz die Kraft, auch die mit diesem Abstimmungsergebnis geschaffenen Herausforderungen zu bestehen.
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